Geschichten und Gedichte

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Nemesia
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Re: Geschichten und Gedichte

Beitrag von Nemesia » Mo Sep 14, 2009 18:27



WOLFGANG BORCHERT - RADI


Heute Nacht war Radi bei mir. Er war blond wie immer und lachte in seinem weichen breiten Gesicht. Auch seine Augen waren wie immer: etwas ängstlich und etwas unsicher. Auch die paar blonden Bartspitzen hatte er. Alles wie immer.

Du bist doch tot, Radi, sagte ich.
Ja, antwortete er, lach bitte nicht.
Warum soll ich lachen?
Ihr habt immer gelacht über mich, das weiß ich doch. Weil ich meine Füße so komisch setzte und auf dem Schulweg immer von allerlei Mädchen redete, die ich gar nicht kannte. Darüber habt ihr doch immer gelacht. Und weil ich immer etwas ängstlich war, das weiß ich ganz genau.
Bist du schon lange tot? fragte ich.
Nein, gar nicht, sagte er. Aber ich bin im Winter gefallen. Sie konnten mich nicht richtig in die Erde kriegen. War doch alles gefroren. Alles steinhart.
Ach ja, du bist ja in Russland gefallen, nicht?
Ja, gleich im ersten Winter. Du, lach nicht, aber es ist nicht schön, in Russland tot zu sein. Mir ist das alles so fremd. Die Bäume sind so fremd. So traurig, weißt du. Meistens sind es Erlen. Wo ich liege, stehen lauter traurige Erlen. Und die Steine stöhnen auch manchmal. Weil sie russische Steine sein müssen. Und die Wälder schreien nachts. Weil sie russische Wälder sein müssen. Und der Schnee schreit. Weil er russischer Schnee sein muss. Ja, alles ist fremd. Alles so fremd.

Radi saß auf meiner Bettkante und schwieg.

Vielleicht hasst du alles nur so, weil du da tot sein musst, sagte ich. Er sah mich an: Meinst du? Ach nein, du, es ist alles so furchtbar fremd. Alles. Er sah auf seine Knie. Alles ist so fremd. Auch man selbst.
Man selbst?
Ja, lach bitte nicht. Das ist es nämlich. Gerade man selbst ist sich so furchtbar fremd. Lach bitte nicht, du, deswegen bin ich heute Nacht mal zu dir gekommen. Ich wollte das mal mit dir besprechen.
Mit mir?
Ja, lach bitte nicht, gerade mit dir. Du kennst mich doch genau, nicht?

Ich dachte es immer.
Macht nichts. Du kennst mich ganz genau. Wie ich aussehe, meine ich. Nicht wie ich bin. Ich meine, wie ich aussehe, kennst du mich doch, nicht?
Ja, du bist blond. Du hast ein volles Gesicht.
Nein, sag ruhig, ich habe ein weiches Gesicht. Ich weiß das doch. Also -
Ja, du hast ein weiches Gesicht, das lacht immer und ist breit.
Ja, ja. Und meine Augen?
Deine Augen waren immer etwas - etwas traurig und seltsam -
Du musst nicht lügen. Ich habe sehr ängstliche und unsichere Augen gehabt, weil ich nie wusste, ob ihr mir das alles glauben würdet, was ich von den Mädchen erzählte. Und dann? War ich immer glatt im Gesicht?
Nein, das warst du nicht. Du hattest immer ein paar blonde Bartspitzen am Kinn. Du dachtest, man würde sie nicht sehen. Aber wir haben sie immer gesehen.
Und gelacht.
Und gelacht.

Radi saß auf meiner Bettkante und rieb seine Handflächen an seinem Knie. Ja, flüsterte er, so war ich. Ganz genauso.
Und dann sah er mich plötzlich mit seinen ängstlichen Augen an. Tust du mir einen Gefallen, ja? Aber lach bitte nicht, bitte.
Komm mit.
Nach Russland?
Ja, es geht ganz schnell. Nur für einen Augenblick. Weil du mich noch so gut kennst, bitte.
Er griff nach meiner Hand. Er fühlte sich an wie Schnee. Ganz kühl. Ganz lose. Ganz leicht.

Wir standen zwischen ein paar Erlen. Da lag etwas Helles. Komm, sagte Radi, da liege ich. Ich sah ein menschliches Skelett, wie ich es von der Schule her kannte. Ein Stück braungrünes Metall lag daneben. Das ist mein Stahlhelm, sagte Radi, er ist ganz verrostet und voll Moos.
Und dann zeigte er auf das Skelett. Lach bitte nicht, sagte er, aber das bin ich. Kannst du das verstehen? Du kennst mich doch. Sag doch selbst, kann ich das hier sein? Meinst du? Findest du das nicht furchtbar fremd? Es ist doch nichts Bekanntes an mir. Man kennt mich doch gar nicht mehr. Aber ich bin es. Ich muss es ja sein. Aber ich kann es nicht verstehen. Es ist so furchtbar fremd. Mit all dem, was ich früher war, hat das nichts mehr zu tun. Nein, lach bitte nicht, aber mir ist das alles so furchtbar fremd, so unverständlich, so weit ab.
Er setzte sich auf den dunklen Boden und sah traurig vor sich hin.
Mit früher hat das nichts mehr zu tun, sagte er, nichts, gar nichts.

Dann hob er mit den Fingerspitzen etwas von der dunklen Erde hoch und roch daran. Fremd, flüsterte er, ganz fremd. Er hielt mir die Erde hin. Sie war wie Schnee. Wie seine Hand war sie, mit der er vorhin nach mir gefasst hatte: Ganz kühl. Ganz lose. Ganz leicht.
Riech, sagte er.
Ich atmete tief ein.
Na?
Erde, sagte ich.
Und?
Etwas sauer. Etwas bitter. Richtige Erde.
Aber doch fremd? Ganz fremd? Und doch so widerlich, nicht?
Ich atmete tief an der Erde. Sie roch kühl, lose und leicht. Etwas sauer. Etwas bitter.
Sie riecht gut, sagte ich. Wie Erde.
Nicht widerlich? Nicht fremd?
Radi sah mich mit ängstlichen Augen an. Sie riecht doch so widerlich, du.
Ich roch.
Nein, so riecht alle Erde.
Meinst du?
Bestimmt.
Und du findest sie nicht widerlich?
Nein, sie riecht ausgesprochen gut, Radi. Riech doch mal genau.
Er nahm ein wenig zwischen die Fingerspitzen und roch.
Alle Erde riecht so? fragte er.
Ja, alle.
Er atmete tief. Er steckte seine Nase ganz in die Hand mit der Erde hinein und atmete. Dann sah er mich an. Du hast recht, sagte er. Es riecht vielleicht doch ganz gut. Aber doch fremd, wenn ich denke, dass ich das bin, aber doch furchtbar fremd, du.
Radi saß und roch und er vergaß mich und er roch und roch und roch. Und er sagte das Wort fremd immer weniger. Immer leiser sagte er es. Er roch und roch und roch.

Da ging ich auf Zehenspitzen nach Hause zurück. Es war morgens um halb sechs. In den Vorgärten sah ich überall Erde durch den Schnee. Sie war kühl. Und lose. Und leicht. Und sie roch.
Ich stand auf und atmete tief. Ja, sie roch. Sie riecht gut, Radi, flüsterte ich. Sie riecht wirklich gut. Sie riecht wie richtige Erde. Du kannst ganz ruhig sein.

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Carolyn
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Re: Geschichten und Gedichte

Beitrag von Carolyn » Di Sep 15, 2009 18:28

Also diese Geschichte finde ich jetzt nicht so besonders. Vielleicht verstehe ich den Hintergedanken auch nicht ganz. Ein toter Soldat, der mit seinem Tod in der Fremde hadert - und? (Mal ganz provokativ gefragt.) Dass ein "Heldentod" eines der sinnlosesten Dinge auf Erden ist, ist unbestritten. Aber wie gesagt, ich finde es nichts besonderes.


Ich bemühe mal den guten alten Novalis:

Wer Schmetterlinge lachen hört,
der weiß, wie Wolken schmecken.
Der wird im Mondschein, ungestört
von Furcht, die Nacht entdecken.

Der wird zur Pflanze, wenn er will;
zum Tier, zum Narr, zum Weisen,
und kann in einer Stunde nur
durch's ganze Weltall reisen.

Der weiß, daß er nichts weiß,
wie alle andern auch nichts wissen;
nur weiß er, was die anderen
und er selbst noch lernen müssen.

Wer in sich fremde Ufer spürt
und Mut hat, sich zu recken,
der wird allmählich, ungestört
von Furcht, sich selbst entdecken.

Abwärts zu den Gipfeln
seiner selbst bricht er hinauf;
den Kampf mit seiner Unterwelt
nimmt er gelassen auf.

Wer Schmetterlinge lachen hört,
der weiß, wie Wolken schmecken.
Der wird im Mondschein, ungestört
von Furcht, die Nacht entdecken.

Wer mit sich selbst in Frieden lebt,
der wird genauso sterben,
und ist selbst dann lebendiger
als alle seine Erben.



Oder doch lieber etwas leicht ketzerisches?


Die Liebe und der Abstand zwischen Schienen (Auszug aus dem Buch "Der Zahir" von Paulo Coelho)

Heute habe ich erfahren, dass der Abstand zwischen den Schienen 143,5 Zoll oder 4 Fuß und 8 1/2 Zoll beträgt. Warum aber dieses unsinnige Maß?
Weil beim Bau der ersten Eisenbahnwagen die gleichen Werkzeuge verwendet wurden wie für den Bau von Kutschen.
Aber warum war dies der Abstand der Kutschenräder?
Weil die alten Straßen für dieses Maß gebaut waren und nur so der Kutschverkehr möglich war.
Wer aber hat beschlossen, daß Straßen nur mit diesem Maß gebaut werden durften? Festgelegt haben dies die Römer vor hunderten von Jahren. Aus welchem Grund?
Die Kriegswagen wurden von zwei Pferden gezogen - und stellt man zwei Rassetiere nebeneinander, die damals benutzt wurden, dann nahmen sie 143,5 Zentimeter ein.
Und so kommt es, daß der Abstand zwischen den Schienen, die von modernen Hochgeschwindigkeitszügen befahren werden, von den Römern bestimmt wurde. Als in den USA Einwanderer aus Europa dort Eisenbahnen bauten, fragten sie sich nicht, ob es besser wäre, die Spurweite zu verändern, sondern bauten nach denselben Vorgaben weiter. Dies beeinträchtigte sogar die Konstruktion der Spaceshuttles. Eigentlich waren die amerikanischen Ingenierue der Meinung, daß die Brennstofftanks breiter sein müßten, aber da diese in Utah gebaut wurden, mußten sie mit der Bahn bis zum Space Center in Florida transportiert werden und hätten, wären sie breiter gewesen, nicht durch die Eisenbahntunnel gepaßt. Schlußfolgerung:
Sie mußten sich dem beugen, was die Römer einst als ideales Maß festgelegt hatten.
Und was hat dies nun mit der Liebe zu tun?
Irgendwann ist jemand gekommen und hat gesagt: wenn ihr eine Beziehung eingeht, muss dies zwischen einem Mann und einer Frau geschehen, ihr müßt unverändert bleiben, wie tiefgefroren. Ihr werdet nebeneinander laufen wie zwei Schienen und genau dieser Norm gehorchen. Selbst wenn einer das Bedürfnis hat, sich mal etwas zu nähern, mal etwas zu entfernen, verstößt das schon gegen die Regeln. Die Regeln lauten: seid vernünftig, denkt an die Zukunft, die Familie. Ihr dürft euch nicht mehr verändern, müßt sein wie die Schienen: Der Abstand zwischen euch muß beim Ausgangsbahnhof bis zum Ziel immer gleich groß sein. Ihr dürft nicht zulassen, daß sich eure Liebe verändert, auch nicht, daß sie am Anfang zunimmt und unterwegs oder kurz vorm Ziel abnimmt. Also müßt ihr, wenn die Begeisterung der ersten Jahre verflogen ist, immer denselben Abstand einhalten, immer gleich solide bleiben, immer gleich gut funktionieren. Ihr dürft euch nicht verändern, nicht wachsen. Es wird nur funktionieren, wenn ihr bleibt, wie ihr immer wart - in einem Abstand von 143,5 Zentimetern. Denkt an die Nachbarn. Zeigt ihnen, daß ihr glücklich seid, sonntags grillt, daß ihr fernseht, der Gemeinschaft helft. Denkt an die Gesellschaft! Zieht euch so an, daß alle sehen können, es gibt keine Konflikte zwischen euch. Schaut nicht nach rechts oder links, es könnte euch jemand ansehen, und das wäre dann eine Versuchung, könnte Trennung, Krisen, Depression bedeuten.
Lächelt auf allen Fotos. Stellt die Fotos im Wohnzimmer auf, damit alle sie sehen können. Mäht den Rasen, macht Sport, vor allem Sport, damit ihr in der Zeit konserviert werdet. Wenn der Sport nichts mehr bringt, laßt eine Schönheitsoperation machen. Aber vergeßt nie: Irgendwann einmal wurden diese Regeln aufgestellt, und ihr müßt sie befolgen. Wer diese Regeln aufgestellt hat? Das ist egal. Stellt niemals solche Fragen, denn die Regeln werden immer gültig sein, auch wenn ihr nicht mit ihnen einverstanden seid...
Die Kunst ist, einmal mehr aufzustehen, als man umgeworfen wird. (Winston Churchill)

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Re: Geschichten und Gedichte

Beitrag von Nemesia » Di Sep 15, 2009 18:58

Ich bemühe mal den guten alten Novalis:
Das hatten wir schon...schau mal auf die erste Seite von unserem Thread hier... :nod:
Was die obige Geschichte von Wolfgang Borchert angeht...Mir persönlich gefällt sie sehr gut..Aber das ist ja Geschmacksache :wink: Wolfgang Borchert hat in seinen Geschichten eigene Kriegserlebnisse verarbeitet..Mit 20 wurde er in den Krieg geschickt...einige Male verletzt, krank, verhaftet...Nach dem Krieg war er, wie so viele, traumatisiert...und das hat er in seinen Geschichten verarbeitet..oder zumindest VERSUCHT zu verarbeiten.
Ich finde, dass in dieser Geschichte doch sehr viel ausgesagt wird...Über die Sinnlosigkeit eines Krieges, über den viel zu frühen Tod eines Menschen usw.........Wolfgang Borchert hat immer wieder gerne diesen Aspekt der Erdwerdung des Menschen in seine Geschichten eingebaut...So auch hier....Das gefällt mir persönlich sehr gut.

LG von Nemesia :wink:

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Carolyn
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Re: Geschichten und Gedichte

Beitrag von Carolyn » Mi Sep 16, 2009 14:52

Ok, so weit habe ich nicht zurückgeschaut. :oops:

Das, was er damit aussagt, ist zweifellos enthalten und kommt auch rüber. Aber für mich ist das sozusagen eine Binsenweisheit, deswegen beeindruckt es mich nicht. Kommt dazu, dass ich ja auch keine eigenen Erfahrungen diesbezüglich habe (und hoffentlich auch nie machen werde) und es daher nicht wirklich nachempfinden kann. Somit ist in dieser Geschichte für mich nichts Neues, Interessantes drin, für mich ist sie banal.

Eigene Erlebnisse und Empfindungen verarbeiten - wie wäre es damit?

Das Kind und die Katze

Es war einmal ein Kind, glücklich, fröhlich, laut lachend, unbeschwert, wie Kinder sein sollten. Es lebte in der Stadt, zwar ohne Kontakt zur Natur oder zu Tieren, aber es vermißte nichts. Seine Eltern liebten es, es hatte Spielkameraden und Spielzeug, soviel es wollte. Es gab wohl Kümmernisse im Leben des Kindes, doch die waren jedesmal schnell vergessen, die Eltern sorgten schon dafür.

Es war einmal eine Katze, die auf einem Hof auf dem Land aufwuchs. Sie streifte umher, soweit die Pfoten sie trugen, nur die Reviergrenzen anderer Katzen galt es zu respektieren. Um die Nahrung und den Schlafplatz mußte sie nicht kämpfen, denn es gab Menschen, die für sie sorgten. Diese Menschen mochte sie sehr, nicht nur als "Dosenöffner" sondern auch, weil sie Streicheleinheiten spendeten, wenn die Katze es wollte, sie aber im Übrigen in Frieden ihrer Wege gehen ließen. Es war ein ungebundenes, ein freies Leben, nicht vergleichbar mit den Stubentigern, die sich jederzeit anfassen ließen oder gar den Perserkatzen, denen täglich das Fell gebürstet wurde, die auf Katzenschauen in Käfigen gefangen gehalten wurden und von den Prüfern mit festem Griff in alle erdenklichen Richtungen gedreht wurden, ohne sich auch nur im geringsten dagegen zu wehren, waren sie es doch schon seit ihren Tagen als kleines Kätzchen gewöhnt. Die Hofkatze entschied selbst, wann sie Kontakt zu ihren Menschen aufnehmen wollte. Sie haßte es, festgehalten zu werden.

Dann geschah es, daß Kind und Katze zusammenkamen. Wie? Vielleicht machten die Eltern mit dem Kind in der Nähe Urlaub. Vielleicht sogar im selben Haus. Vielleicht hatte die Katze diese Gäste in ihrem Revier sogar akzeptiert, sie aus der Ferne beobachtet, wie es dem Wesen von Katzen entspricht, ohne jedoch näheren Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Sehen ließ sich die Katze jedenfalls nicht. Aber vielleicht konnte man ja bei Gelegenheit ein paar Extra-Streicheleinheiten und Leckerbissen ergattern.

Irgendwann sah das Kind die Katze. Zum ersten Mal in seinem Leben sah das Kind eine lebende Katze, keines von den Stofftieren, die sich geduldig knuddeln ließen, sondern ein selbständiges, halbwildes Tier. Es hatte schon davon gehört, die Eltern hatten ihm davon erzählt. Doch wie sollte es den Unterschied zu seinem geduldigen Spielzeug begreifen?

Voll Freude jauchzte das Kind auf und stürmte mit ausgebreiteten Armen auf die Katze zu. Es wollte dem Tier nichts Böses, es wollte die Katze nur in den Arm nehmen, es streicheln und knuddeln, sein Gesicht in das warme Fell drücken, so ähnlich, wie es das auch mit den Stofftieren zu Hause gemacht hatte. Nur sollte das noch viel schöner sein, hatten die Eltern ihm erzählt.

Nun, jeder der Katzen einigermaßen kennt, kann sich denken, daß dies nicht so kam, wie das Kind es sich dachte. Die Katze sah ein menschliches Wesen auf sich zu stürmen; laut schreiend und mit allen Anzeichen dafür, daß es sie einfangen wollte. Die Katze nahm Reißaus. Zuerst nicht weit, denn sie war ja doch neugierig und hatte keine Angst. Mit Menschen hatte sie doch überwiegend positive Erfahrungen gemacht. Doch sosehr die Katze versuchte auszuweichen und wieder die gewünschte Distanz aufzubauen, das Kind kam hinterher. Es lachte sogar noch lauter, denn Fangen spielte es schon immer gern. Vor allem, wenn der, den es fangen wollte auch immer wieder stehen blieb, um es herankommen zu lassen. Dem Kind machte es viel Spaß, hinter der Katze her zu laufen.

Die Katze war verstört. Warum merkte denn dieser Mensch nicht, daß sie im Moment keinen engeren Kontakt wünschte? Warum verfolgte er sie? Der Katze passierte, was keiner Katze jemals passieren sollte - sie wurde in die Enge getrieben. Sie war in eine Sackgasse geraten, ihr üblicher Fluchtweg war plötzlich versperrt. Nun war es vorbei mit ihrer Ruhe! Blitzschnell drehte sie sich um und wollte auf dem Weg zurück, den sie gekommen war, doch dort war das Kind, das immer noch mit ausgestreckten Armen auf die Katze zugelaufen kam.

Endlich hatte das Kind die Katze erwischt! Endlich konnte es das Tier in den Arm nehmen und mit ihm schmusen! Es ahnte nichts Schlimmes, hatte es doch keinerlei Erfahrung im Umgang mit Tieren.

Die Katze geriet in Panik. Sie wollte, sie durfte nicht festgehalten werden, sonst war sie hilflos ausgeliefert! Also wehrte sich die Katze. Sie wehrte sich mit den Mitteln, die einer Katze zur Verfügung stehen. Da Fauchen und Knurren nicht half, setzte sie ihre Waffen, Krallen und Zähne, ein. Ihr war es egal, ob dabei Stoff oder Haut in Fetzen ging, sie wollte nur weg!

Das Kind traf es wie aus heiterem Himmel. Als die Krallen in sein Fleisch drangen, als die Zähne sich in seine Hand bohrten, verstand es die Welt nicht mehr! Was war mit dem Schmusetier passiert, das es eingefangen hatte? Die Eltern hatten doch gesagt, eine Katze sei weich und anschmiegsam! Und nun tat es so weh! Das war kein liebes Tier, das war ein böses Tier! Es war alles gelogen!

Die Katze kam schließlich frei. Sie flüchtete und zog sich in ihr Versteck hoch oben im Heustock zurück. Sie zitterte, so etwas hatte sie noch nie erlebt. Und sie wollte es auch so schnell nicht wieder erleben! Um sich zu beruhigen, putzte sich die Katze ausgiebig und versuchte das Fell in Ordnung zu bringen, das auf so rüde Art und Weise durcheinander geraten war. Nach mehr als einer Stunde hatte sie sich soweit beruhigt, daß sie ihren sicheren Zufluchtsort wieder verließ.

Und das Kind? Es wurde von seinen Eltern getröstet, die natürlich sofort herbei eilten, als sie das Gebrüll ihres Kindes hörten. Es wurde beschwichtigt, die wirre Geschichte von der "bösen Katze" enthüllte den Eltern, was geschehen war. Auch die äußeren Wunden wurden versorgt, sie waren zum Glück nicht tief. Schon wenige Tage später zeigte das Kind stolz seine bunten Pflaster umher, den Grund dafür hatte es verdrängt. Irgendwann lernte es auch, wie man sich einer Katze richtig nähert, daß man einer Katze seine Gesellschaft nicht aufdrängen durfte, wollte man sie nicht verscheuchen oder Verletzungen riskieren.

Auch die Katze überwand ihren Schock. Sie kam zu ihren Menschen ins Haus um sich füttern zu lassen und ließ sich bald auch wieder streicheln. Doch fremden Menschen und vor allem Kindern ging sie noch länger aus dem Weg. Es dauerte seine Zeit, bis Neugierde und die Hoffnung auf entspannte Knuddeleien sie ihre natürliche Scheu wieder überwinden ließen. Aber irgendwann war auch die richtige Zeit dafür wieder gekommen.

(c) by Carolyn, 2004
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Der Tod....unser treuester Freund

Beitrag von Nemesia » Do Sep 17, 2009 15:35

Ein kleiner Zusammenschnitt/Nacherzählung von "Ophelias Schattentheater" geschrieben von Michael Ende...der jetzt auch schon seit 14 Jahren tot ist....

In einer kleinen Stadt lebte ein kleines altes Fräulein mit dem Namen Ophelia. Jeden Abend saß sie in dem kleinen Theater des Ortes, ganz vorne am Bühnenrand und flüsterte den Schauspielern die Worte ihrer Rollen zu, damit sie nicht steckenblieben. So hatte sie nach und nach alle großen Komödien und Tragödien der Welt auswendig gelernt.Sie liebte ihren Beruf, aber die Zeiten änderten sich. Es gab nun Kino und Fernsehen und immer weniger Menschen besuchten das kleine Theater. So kam es, dass das Theater geschlossen wurde und auch das alte Fräulein Ophelia musste gehen.
Zu diesem Zeitpunkt geschah es nun zum ersten mal, dass Fräulein Ophelia die Bekanntschaft mit einem jener Schatten machte, die zu niemandem gehören und die auch niemand haben will.
Fräulein Ophelia hatte Mitleid mit diesen armen Kreaturen und so nahm sie alle Schatten zu sich. Sie lehrte sie die großen Worte der Dichter und eines Tages führten sie die Schauspiele auf, und die Menschen kamen herbei und schauten zu, lachten und weinten und Fräulein Ophelia wurde berühmt.
Eines Tages stand ein besonders großer Schatten vor Fräulein Ophelia, der noch viel dunkler war als all die anderen.
"Bist du auch einer von denen, die keiner haben will?" fragte sie
"Ja", sagte der Schatten langsam, "ich glaube so kann man schon sagen"
"Willst du auch zu mir?" fragte Fräulein Ophelia.
"Würdest du mich auch noch annehmen?"fragte der Schatten
"Ich habe zwar schon mehr als genug, aber irgendwo musst du ja bleiben", sagte sie
"Willst du nicht zuerst meinen Namen wissen?"
"Wie heißt du denn?"
"Man nennt mich ................den Tod"

Danach war es längere Zeit still...................

"Willst du mich trotzdem annehmen?"fragte er schließlich sanft
"Ja", sagte das Fräulein Ophelia, "komm nur."

Da umhüllte sie der große kalte Schatten, und die Welt wurde dunkel um sie her.

Das Ende der Geschichte ist sehr schön...Ophelia spielt nun mit ihren, zu lichten Gestalten gewordenen Schatten, auf Ophelias Lichtbühne vor den Engeln die Geschicke der Menschen in der großen Sprache der Dichter....
Zuletzt geändert von Nemesia am Fr Mär 12, 2010 14:17, insgesamt 2-mal geändert.

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Re: Geschichten und Gedichte

Beitrag von Carolyn » Do Sep 17, 2009 16:39

Ach ... Gevatter Tod ist ein - lieber, alter Bekannter von mir, wenn auch vorwiegend in meinen Gedanken. Da das jetzt SEHR persönlich wird, werde ich hier öffentlich nicht allzu sehr ins Detail gehen, aber Du kannst gerne per PN mehr erfragen. :wink:

Ich bin/war seit der Pubertät depressiv und latent suizidgefährdet. Soll heißen, ich habe mir stunden-, tage-, wochen-, monate-, jahrelang Gedanken über den Tod gemacht, ihn oft herbeigesehnt, mich in Träumen dazu verloren. Ich habe auch rein intelektuell darüber sinniert, wobei dann so etwas wie "das Recht über den selbstbestimmten Tod" rauskam z.B. Es gab eine Phase, als ich die Pille genommen habe, da lag ich mehrere Tage am Stück im Bett und habe mir die für mich richtige Suizid-Methode überlegt. In über zwanzig Jahren ist mir der Tod in Gedanken ziemlich vertraut geworden. Ich habe keine Angst vor dem Tod. Vor dem Sterben, oh ja. Aber nicht vor meinem eigenen Tod. (Da hilft mir allerdings auch mein unbedingtes Gottvertrauen.) Inzwischen habe ich meine Depressionen soweit im Griff, dass sie zumindest keine Gefahr mehr sind (bevor sich da jetzt jemand Sorgen macht :lol. ).

Ganz real ist der Tod für mich geworden, als 2005 mit nur einem knappen halben Jahr Abstand meine Eltern gestorben sind. Weil ich damit nicht klar kam, war ich Anfang dieses Jahres ein paar Mal bei einer Psychotherapeutin. Doch auch hier war das Problem nicht, dass ich mit dem Tod gehadert hätte, wie es oft der Fall ist. Ich bin nur mit meinem ganz persönlichen Verlust nicht klar gekommen. Mit dem plötzlichen Alleinsein und der Überforderung im Alltag. Das ist jetzt aber erledigt.

Aus diesem Verhältnis zum Tod sage ich immer noch, das ist für mich eine Binsenweisheit. Der Tod ist für mich so normal wie die Luft, die ich atme. Deshalb ist er es im meinem Augen sozusagen nicht (mehr) wert, eine Geschichte daraus zu machen.

Michael Ende ist einer der Autoren, die ich sehr schätze, auch wenn ich bei weitem nicht alles von ihm gelesen habe. Das Motto von Beppo Straßenkehrer "Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug, Besenstrich für Besenstrich" ist auch meines. ;)
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Re: Geschichten und Gedichte

Beitrag von Nemesia » Fr Sep 18, 2009 09:44

Heute mal statt einer Geschichte ein Buchtipp..

Dai Sijie (chinesischer Autor und Filmemacher, geb.1954, seit 1984 in Paris) - Wie ein Wanderer in einer mondlosen Nacht

China, Anfang des 20. Jahrhunderts: Der letzte Kaiser, als Kind auf den Thron gesetzt, depressiv, einsam und von Halluzinationen heimgesucht versucht eine uralte Schriftrolle zu kopieren, deren kalligraphische Zeichen die geheimen Anfänge des Buddhismus umfassen. Es gelingt ihm nicht...
Jahre später wird der letzte Kaiser von China gefangengenommen und in einem Flugzeug entführt. In einem Anfall von Wahnsinn zerreißt er die Schriftrolle und wirft sie aus dem Fenster.
1978 studiert eine junge Französin in Peking Sinologie. Durch ihre Begegnung mit einem Gelehrten, der ihr die wahre Geschichte des letzten chinesischen Kaisers erzählt, erfährt sie vom Geheimnis des verschollenen Fragments, das auf rätselhafte Weise das Leben vieler Menschen beeinflußt. Als die Ich-Erzählerin dann die Liebe ihres Lebens mit dem Gemüsehändler Tumschuk erlebt, gerät auch sie in den Bann des verlorenen Sutras.
"Ich ging nun jeden Abend nach den Vorlesungen zu Tumschuk und brachte das Abendessen aus der Mensa mit. Wenn wir fertig gegessen hatten, erzählte mir Tumschuk Geschichten, ich war ganz süchtig nach seinen Geschichten, denn er war ein begnadeter Erzähler."
Die Suche nach der Schriftrolle führt sie zueinander und trennt sie zuletzt...

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Re: Geschichten und Gedichte

Beitrag von Lilliput » So Sep 20, 2009 17:01

Der Große Bär
Vor langer, langer Zeit herrschte einmal eine große Trockenheit im Lande: Alle Flüsse, Bäche und Brunnen waren ausgetrocknet, die Bäume, die Büsche, die Gräser waren verdorrt, und Menschen und Tiere starben vor Durst.
Eines Nachts trat ein kleines Mädchen mit einem Krüglein aus einem Hause, um Wasser für seine kranke Mutter zu suchen. Doch sie fand nirgends welches, legte sich im Felde müde ins Gras nieder und schlief ein. Als sie erwachte und nach dem Krüglein griff, hätte sie den Inhalt beinahe verschüttet. Das Krüglein war nämlich voll reinen frischen Wassers. Das Mädchen freute sich und wollte erst selbst davon trinken, besann sich aber darauf, dass es dann nicht für ihre Mutter reichen würde, und lief mit dem Krüglein nach Hause. Dabei beeilte sie sich so, dass sie nicht bemerkte, dass ein Hündchen vor ihren Füßen lag; sie stolberte darüber und ließ das Krüglein fallen. Das Hündchen winselte kläglich. Die Kleine aber griff nach dem Krüglein.
Sie glaubte das Wasser verschüttet zu haben; allein das Krüglein stand aufrecht da, und das ganze Wasser war noch drin. Nun goß sich das Mädchen ein wenig Wasser auf die flache Hand, das Hündchen leckte es auf und wurde wieder munter. Als nun das Mädchen wieder nach dem Krüglein griff, sah sie, dass es von Silber war, während es früher aus Holz gewesen war. Das Mädchen brachte es nach Hause und reichte es der Mutter. Allein die Mutter sagte: "Ich muss ja sowieso sterben, trink lieber selbst davon", und gab es ihr zurück. Im selben Augenblick verwandelte sich das Gefäß aus einem silbernen in ein goldenes Krüglein. Jetzt konnte das Mädchen seinen Durst nicht mehr überwinden und wollte das Krüglein schon an die Lippen führen, als plötzlich die Tür aufging und ein Wanderer eintrat und um einen Trunk bat. Das Mädchen schluckte seinen Speichel hinunter und reichte dem Wanderer das Krüglein. Da traten auf dem Krüglein plötzlich sieben mächtige Diamanten hervor, aus dem Inneren aber ergoss sich ein gewaltiger Strahl reinen frischen Wassers.
Die sieben Diamanten lösten sich los, erhoben sich über die Erde und stiegen höher und höher empor, bis sie den Himmel erreichten. Hier blieben sie stehen. Es sind die Sterne des Großen Bären.

Leo N. Tolstoj

Gruß Muscosa

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Re: Geschichten und Gedichte

Beitrag von Nemesia » So Sep 20, 2009 19:24

@Muscosa

Die Geschichte ist wunderschön :grin: :daumen:

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Re: Geschichten und Gedichte

Beitrag von Carolyn » Mo Sep 21, 2009 17:28

Stimmt *einsammel* auch wenn mir das Ende nicht so besonders gefällt. Was haben die Menschen in ihrer Not und Großherzigkeit von den Sternen am Himmel? "Nur" das Wasser in der guten Stube, auch wenn Wasser natürlich das Kostbarste auf Erden ist (nach Atemluft).
Die Kunst ist, einmal mehr aufzustehen, als man umgeworfen wird. (Winston Churchill)

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Re: Geschichten und Gedichte

Beitrag von Nemesia » Di Sep 22, 2009 09:02

Apropos...STERNE AM HIMMEL.....Bild

Catch a falling star and put it in your pocket,
Never let it fade away!
Catch a falling star and put it in your pocket,
Save it for a rainy day!

For love may come and tape you on the shoulder,
Some star-less night!
Just in case you feel you wanna hold her,
You`ll have a pocketful of starlight!

Catch a falling star and put it in your pocket,
Never let it fade away!
Catch a falling star and put it in your pocket,
Save it for a rainy day!

For when your troubles startn` multiplyin`,
And they just might!
Its easy to forget them without tryin`,
With just a pocketful of starlight!

Catch a falling star and put it in your pocket,
Never let it fade away!
Catch a falling star and put it in your pocket,
Save it for a rainy day!



Bild

Fange einen fallenden Stern und lege ihn in deine Tasche
Lasse ihn nie verblassen
Fange einen fallenden Stern und lege ihn in deine Tasche
Und heb ihn für schlechte Zeiten auf

Denn Liebe kommt vielleicht und klopft dir auf die Schulter
In einer sternlosen Nacht
Und nur für den Fall dass Du sie halten möchtest
Dann hast du eine Tasche voller Sternenlicht

Fange einen fallenden Stern und lege ihn in deine Tasche
Lasse ihn nie verblassen
Fange einen fallenden Stern und lege ihn in deine Tasche
Und heb ihn für schlechte Zeiten auf

Denn wenn deine Sorgen anfangen sich mit aller Kraft zu vermehren
Ist es leicht
Sie ohne Mühe zu vergessen
Mit einer Tasche voller Sternenlicht

Fange einen fallenden Stern und lege ihn in deine Tasche
Lasse ihn nie verblassen
Fange einen fallenden Stern und lege ihn in deine Tasche
Und heb ihn für schlechte Zeiten auf

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Carolyn
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Re: Geschichten und Gedichte

Beitrag von Carolyn » Mi Sep 23, 2009 15:23

Bericht 0001256/3 ?

Ich habe sie gerettet die Schöpfung, ich bin ihr Bewahrer. Dafür wurde ich gemacht, von Anfang an war das meine Aufgabe. Jeden Tag überprüfe ich die Gendatenbanken, die Aufzeichnungen über alle bekannten Arten von Tieren, Pflanzen, Menschen. Die Aufzeichnungen über die Zusammensetzung und Beschaffenheit des Erdbodens in den verschiedenen Klimazonen. Die Zusammensetzung des Wassers in den Ozeanen und Meeren. Es ist alles gespeichert, alles vorhanden. In riesigen Regalen und Lagern, in Kühltruhen, in Datenspeichern alles ist hier. Hier unter dem Eis des ehemaligen Nordpols. Auf der Erde toben die radioaktiven stürme, der Ozean besteht aus Chemikalien, es entstehen täglich neue Mutationen von Viren und Bakterienarten, alle tödlich für das, was lebte. Ich weiß das, weil Messsonden und Satteliten täglich mehrmals Ergebnisse senden. Auch diese bewahre ich auf, hier. Seit 1005 Jahren, 30 Tagen, 2 Stunden, 24 Minuten, 35 Sekunden. Die Stromversorgung funktioniert gut, dank umfangreicher Vorkehrungen und abgesicherter Systeme. Irgendwann einmal, so weiß ich, werden sich die Stürme legen, das Wasser des Ozeans nicht mehr giftig sein für das Leben das es einst gab. Dann wird meine Aufgabe beginnen. Alle Lebewesen werden wieder hergestellt. Zuerst das Leben im Meer, dann auf dem Land. Es gibt einen genauen Plan dafür, feste Zeiten und Regeln. Es wird wieder werden, wie es vorher war – fast. Das, was man Civilisation nennt, wird es am Anfang nicht geben. Aber die Menschen werden sie wieder entwickeln. Auch dafür gibt es feste Regeln, mathematische Soziologie. Vielleicht machen sie die gleichen fehler wieder und noch einmal wird alles vernichtet. Ich kann das nicht beurteilen. Ich werde dann nicht mehr da sein, es nicht mehr messen können. Wenn die Satteliten die Entstehung der ersten stadtähnlichen Siedlungen melden, werde ich die Selbstvernichtung aktivieren und von diesem Ort wird nichts bleiben. Dafür wurde ich programmiert, ich das Computersystem ARCHE.

(c) by Salystra, 2004
Die Kunst ist, einmal mehr aufzustehen, als man umgeworfen wird. (Winston Churchill)

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