

Für den Anfang nochmal die Geschichte aus dem Thread "Sinnlose Sammlungen".
Ein Baum erzählt
Als ich noch klein war, merkte ich nichts. Aber als ich heranwuchs und mich selbst betrachtete, fiel mir der Unterschied auf. Ich war klein, knorrig, krumm und ein wenig verwachsen. Die anderen Bäume, die ich sehen konnte, waren dagegen prächtig: machtvolle Buchen mit ihrer riesigen Krone, hohe schlanke Tannen und Bergahorn, der im Herbst herrlich gelb leuchtete. Ich stehe, müsst ihr wissen, an einer Felswand auf einem schmalen Vorsprung und habe meine Wurzeln in das bisschen Erde und in die Felsritzen gekrallt.
Ich träumte davon groß und schön zu werden; meine Krone sollte sich im Wind wiegen, der Regen meine Blätter streicheln und die Sonne wieder trocknen. Aber ich blieb klein. Der Wind fegte durch meine Äste, wenn er auf die Felswand zu blies, und die Sonne wärmte mich nur bis Mittag, bevor sie hinter der Felswand verschwand, um nur noch die Bäume im Tal und an der gegenüberliegenden Felswand zu bescheinen.
Warum musste ich gerade hier stehen? Aus dem bisschen Erde konnte ich nicht genug Kraft schöpfen, um heranzuwachsen und all meine Schönheit, die doch in mir steckt, zu entfalten. Ich war unzufrieden mit meinem Schicksal. Warum musste ich so sein und so werden?
Eines Tages, an einem schönen Vorfrühlingsmorgen, als die Erde vom Tal zu mir herauf duftete, die Singdrosseln ihr Lied begannen und mich die allerersten Sonnenstrahlen küssten, durchrieselte es mich warm und wohlig. Was für eine herrliche Aussicht! So weit wie ich konnte kaum ein Baum im Tal in die Ferne sehen. Die Felswand hinter mir beschützt mich vor der eisigen Kälte, die vom Gletscher herunterweht.
Von diesem Tag an begann ich nachzudenken und langsam wurde mir klar: Ich bin so wie ich bin etwas ganz Besonderes. Meine Besonderheit ist mein krummer Stamm, sind meine knorrigen Wurzeln, meine kurzen, kräftigen Äste. Ich passe hier an meinen Platz und bin etwas wert. Ich muss nur die Augen aufmachen und mich richtig ansehen. Die anderen Bäume, die Tannen am Hang gegenüber und die Buchen im Tal haben ihre Schönheit und sind richtig an ihrem Platz wo sie stehen. Aber auch ich habe meinen Platz und stehe richtig auf meinem Felsvorsprung.
Warum hat es nur so lange gedauert, bis ich das erkannt habe?
Autor unbekannt