Tag um Tag

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Re: Tag um Tag

Beitrag von Tscharlie » Sa Feb 19, 2022 16:07

Nö ich bin die junge Frau die hauptsächlich zu sehen ist.

:lol:



Doch leider, ich bin der alte Zausel.
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Re: Tag um Tag

Beitrag von Mia » Sa Feb 19, 2022 17:23

Na, Du bist aber sehr sympathisch! :smile:
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Re: Tag um Tag

Beitrag von Mia » Mo Feb 21, 2022 20:56

So. Für heute habe ich hier alles geschrieben, was ich schreiben konnte. Das war leicht und angenehm unbelastend.
Jetzt muss ich arbeiten.

Ich habe ja irgendwo schon erzählt, dass ich an einem Comic, na, eher einer Grafik-Novell, über 'Elternpflege' arbeite. Die Zeichnungen gehen mir gut von der Hand, aber dahinter liegt ja eine Geschichte. Die Geschichte erzählt von gegenseitigen Ausflüchten, gegenseitigem Quälen und Verdrehungen, von Demenz, bis dahin, das sich die Protagonisten zuletzt annähern, und sich --- lieben können.

Ich habe natürlich diese 10 Jahre Pflege tagebuchartig - und in Kommunikation mit anderen - aufgeschrieben. Gerade befinde ich mich beim Nachlesen in den letzten zwei Jahren vor dem Tod meiner Mutter. Oh, man, das ist herbe!
Es macht kein Vergnügen, da wieder reinzutauchen!

Ich war inzwischen innerlich so weit, dass ich sie gut annehmen konnte.
Nur, jetzt kam das Problem von außen.
Die gute Mama hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ständig aus ihrem Haus zu krabbeln, allen beliebigen Passanten weinend um den Hals zu fallen, und zu verkünden: " Ich wurde eingesperrt!" Oder alternativ: "Ich wurde ausgesperrt! Ich habe keinen Schlüssel!" - "Meine Tochter lässt mich verhungern! Ich habe kein Brot mehr! Ich habe nichts zu trinken! Ich muss verdursten! Ich habe Schmerzen! Bitte: HELFEN Sie mir!"
"Ja, wo wohnt denn Ihre Tochter, gute Frau?"
"Na, direkt hier, im Anbau von meinem Haus!"
"Ahh! Der werde ich was sagen! Warten Sie, gleich rufe ich die Polizei! Die wird Ihnen helfen! Sowas geht doch nicht!"
Warum machte Mutter das? Weil sie sich einfach - in kleinen Zeiten von Langeweile- Aufmerksamkeit wünschte!

Denn, Ihr wisst: morgens um sieben kam der Pflegedienst, zum waschen und ankleiden, zum Brötchenschmieren und Kaffee einschenken.
Von elf bis eins kam der Betreuungsdienst, zum kurz durchputzen, aufräumen und Mittagessen bereiten. Nach dem liebevollen Abfüttern wurde Madame auf die Couch gebettet, für ein kleines Nickerchen.
Ab 15 Uhr war ich dann da, es gab einen Ausflug im Auto, zum Einkaufen, aber vorher zum Wald, wo ich mit den Hunden ging. Ich habe Mutter so geparkt, dass sie für die halbe Stunde Tiere auf der Weide beobachten konnte, Pferdchen, Schafe, dazu gab es im Winter für sie einen Berliner Ballen zum Wegknuspern, und eine Trinkflasche mit verdünntem Apfelsaft oder Tee. Im Sommer gab es für die wartende Mutter Eis im Hörnchen.

Danach gingen wir einkaufen. Mutter raus, an den Einkaufswagen gestellt, und sie ihre Sachen habe machen lassen. Käse an der Käsetheke einkaufen, Fisch an der Fischtheke, Wurst an der Fleischtheke. Gegen 17.30 Uhr waren wir wieder daheim. Mutter zur Toilette geführt, dann auf den Sessel gebettet - Fernsehen an! - und das Abendbrot vorbereitet.
Die Mama abgefüttert, ab viertel nach acht ausgezogen, liebevoll gebettet, zugedeckt, in den Schlaf geküsst - und bei mir das Babyfone an! Damit ich, falls nachts etwas mit ihr sei, sofort rübereilen konnte!

Also, die Dame hatte überhaupt nichts zu beklagen! Aber nie habe ich mehr Besuch von aufgebrachten Passanten - und der Polizei - gehabt, als zu jener Zeit.
Es fällt mir sehr schwer, das alles jetzt wieder lesen zu müssen.
Aber gut, da muss ich durch!

Und ich glaubte an Mutter! Die konnte noch soo viel!
Klingelt mich morgens die Polizei raus, steht da ein dicker Bus bei uns im Vorgarten.
Warum? Weshalb? - "Nun", sprach die Frau Polizistin ( eine von 5 Beamten übrigens), "Ihre Mutter wollte damit zum Frisör gebracht werden!"
"Ja, und?" antwortete ich. "Kann sie nicht mit dem Bus fahren, wie jeder andere Mensch auch?"
"Sie ist durcheinander", meinte die Polizistin, "deshalb hat uns der Busfahrer angerufen! Können Sie Ihrer Mutter nicht mal hinten ein Schild mit ihrem Namen in den Kragen nähen, damit man weiß, wie sie heisst?"
"Warum fragen Sie sie nicht selbst?", entgegnete ich. "Ihren Namen kennt sie doch!"
"Ja, aber.... sie hat keine Fahrkarte!"
"Doch", sagte ich, "in ihrer Handtasche! Der amtliche Freifahrtschein! Sie geht nie ohne Handtasche aus dem Haus! Darin befindet sich auch ihre Geldbörse, ihr Personalausweis und der Haustürschlüssel! Den habe ich da an einem langen weißen Band angenäht, damit er ihr nicht abhanden kommen kann."

Polizistin: "Ja, aber das geht doch nicht! Sie können doch nicht eine Verrückte einfach so laufen lassen!"
Ich: "Sie ist nicht verrückt, sie ist dement, das ist alles! Es ist eine vaskuläre Demenz, kein Alzheimer! Und, was Ihnen, dem Busfahrer und den Passanten hier fehlt, ist, dass Sie alle den Umgang mit demenzerkrankten Menschen nicht gewohnt sind! Das wird ändern, denn die Fälle von Altersdemenz werden sich in Zukunft häufen. - Guten Tag!"

Meine alte Mutter stand da ganz klein neben dem Bus, in Hut und Mantel, umgeben von vier bewachenden Polizisten, ihre Handtasche sorgsam mit beiden Händen umklammernd.
Als sie mich sah, lächelte sie etwas.
"Hach, Angelika, hier ist ja irgendwie was los. Komm, hilfst du mir? Ich glaube, wir gehen jetzt am besten mal wieder rein."

Ich gebe zu, das alles ist für einen Außenstehenden schwer zu verstehen und einzuordnen.
Mir fällt es gerade auch schwer, die Nuancen herauszuarbeiten, damit die Thematik verständlicher wird. Aber ich muss es ja wohl machen! Wenn ich es - auch für andere - auf die Reihe bekommen will. :wink:

Mia
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Re: Tag um Tag

Beitrag von Tscharlie » Di Feb 22, 2022 06:29

Ich denke es ist wie bei Kindern.

Denn es braucht ein ganzes Dorf um ein Kind großzubekommen.
Und es braucht ein ganzes Dorf um einem alten Menschen zu begleiten.
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Re: Tag um Tag

Beitrag von Mia » Di Feb 22, 2022 15:35

Tscharlie hat geschrieben:Und es braucht ein ganzes Dorf um einem alten Menschen zu begleiten.
Recht haste, Tscharlie!
Mit den Leuten, die Mutter kannten, war auch alles gut. Naja, fast. Aber weitgehend. Sie hätte sich ebensogut ein Taxi nehmen können. Es war auch Pech, dass ihr vertrauter Busfahrer nicht da war. Der sammelte sie vor ihrem Haus ein und lies sie beim Frisör wieder raus.
Na, mal gucken, wie ich das umgesetzt kriege.

Und jetzt stürze ich mich - voll von innerem Widerstreben - auf die inhaltliche Verarbeitung dieser letzten Jahre.
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Re: Tag um Tag

Beitrag von Tscharlie » Di Feb 22, 2022 17:27

Vielleicht ist ein wenig Humor und Leichtigkeit ein gangbarer Weg durch diese Zeit.

Denn eines sollte man dabei nicht vergessen: Unsere Gesellschaft gibt den dementen Menschen ihre Freiheit, noch vor wenigen Jahrzehnten wären die "weggesperrt" worden.

Ich selbst finde demente Menschen sehr interessant, denn oft können sie sich, wie meine Großmutter, sehr gut an ihre Jugend und Kindheit erinnern und aus grauer Vorzeit, völlig ohne Argwohn erzählen.

Aber ich bin auch überzeugt: Kein einzelner Mensch kann einen dementen Menschen betreuen.

Bei meinem Vater war erst dann die Lage soweit im Griff, als er bettlägrig wurde, dann konnte meine Mutter ihn mit Hilfe versorgen.
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Re: Tag um Tag

Beitrag von Mia » Di Feb 22, 2022 20:14

Na, der Humor ist bei mir mit den Jahren der Pflege gewachsen. *lächel*

Meine Mutter war bis zu ihrem Tod nie bettlägerig. Bis zu ihrem Ende war sie hellwach. Sie konnte telefonieren, sich flott anziehen und Menschen nerven. Wenn ihr nur nachts ein Puup quer saß, rief sie zig mal nachts den Notdienst an. Das war, bevor ich da wohnte. Dann versuchte sie das gleiche Spiel mit mir.

Jetzt lese ich gerade eine Zeit nach, in der mir ständig Leute in die Seele traten: "Hörn'se mal, ist ja schön, dass Sie im Anbau bei Ihrer Mutter wohnen! Aber könn'se nicht mal 'nen Mauerdurchbruch machen, damit die Alte ständig bei Ihnen ist? Da könnten Sie sie ja immer lieb in den Arm nehmen! Uns geht das nämlich auf den Sack, dass die immer wieder am Tor steht und um Hilfe schreit!"
"Ich muss morgens arbeiten! - Dann wäre sie auch allein."
"Können Sie die nicht im Heim abgeben?"
"Ich hatte sie eine Zeit im Heim. Da hat sie komplett das Essen verweigert und Tag und Nacht geweint. - Das ging nicht!"
"Könn'se die nicht einsperren?"
"Nein. Mutter ist eine erwachsene Frau, die ein Recht darauf hat, um ihr Haus zu gehen und meinetwegen auch am Törchen um Hilfe zu schreien, wenn ihr danach ist!"

Tscharlie, ich muss jetzt einfach diese Zeit, die ich im Nachlesen als sehr bedrückend empfinde, wegarbeiten. Dann ist es vermutlich gut. :wink:
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Re: Tag um Tag

Beitrag von Tscharlie » Mi Feb 23, 2022 06:23

Menschen haben eine wunderbare Eigenschaft, im Laufe der Zeit, erinnern sie eher die possitiven Erlebnisse der Vergangenheit. Es ist ein bißchen so also ob unser "Schutzengel" Rosenblätter über die Vergangenheit rieseln läßt.
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Re: Tag um Tag

Beitrag von Mia » Mi Feb 23, 2022 16:38

Ja, mir geht das zum Beispiel so. Ich erinnnere mich auch gerne bewusst an schöne Dinge.

War bei meiner Mama allerdings nicht so.
Die konnte mir noch bis vor ihrem Tod höchst empört erzählen, dass sie zu ihrer Konfirmation einen gewendeten Mantel tragen musste! Der war zwar komplett neu für sie genäht, aber der Stoff stammte von dem älteren Mantel einer Tante. Na, da wurden die Nähte aufgetrennt, neu zugeschnitten, und - Innenseite nach außen- neu z'ammgenäht. - Ich bin sicher, ICH hätte mich nicht so angestellt! :smirk:
Meine Mutter war halt ein 'Prinzesschen'!
Schlimm fand sie auch, dass sie beim Ausschachten des Kellers ihres zukünfigen Familien-Eigenheimes mithelfen sollte. Wie der Vater es tat, die Mutter, die beiden älteren Brüder.
Erde? Eimer? Tragen? - Pfui!

Ist schon eigenartig, etwas von der Geschichte dieses extrem verwöhnten Kindes/Mädchens/Frau, in meinem Buch sozusagen (mit-) zu erzählen. Naja, muss halt sein.
Ich bin auch schon wieder ein gutes Stück weitergekommen.

Ab morgen, na, vielleicht auch heute noch, kann ich mich wieder den Aussaaten widmen. :nod:

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Re: Tag um Tag

Beitrag von Carolyn » Mi Feb 23, 2022 22:03

Ich lese (online) immer wieder Vermisstenmeldungen der Polizei, oft geht es dabei um Menschen, die aus einem Pflegeheim "ausgebüxt" sind. Oft ist dabei auch zu lesen, dass sie hilfsbedürftig sind. Ich bin mir sicher, da ist auch so mancher Demenzkranke dabei.

Wenn Polizisten öfter mit solchen Fällen konfrontiert sind, dann bin ich mir sicher, dass sie irgendwann damit umgehen können. Dann wissen sie irgendwann, wohin die Leute gehören. So wie es auch die Nachbarschaft irgendwann einordnen kann. (Ich war selbst mal dabei, als mein Automechaniker eine (vermutlich) demente Frau nach Hause gebracht hat, die Blumen pflücken war.) Aber das ist ein Lernprozess und der dauert. Außerdem ist so etwas in einem ländlichen Raum, in dem "jeder jeden kennt" vermutlich leichter als in einem städtischen Gebiet. Insofern: Ja, die Polizeibeamten werden es lernen, damit umzugehen.

Nur gehört da auch dazu, sich mit der eigenen Vergänglichkeit, mit der eigenen Aussicht im Alter auf Krankheit auseinander zu setzen. Das tut niemand gern. Krankheit ist ein Tabu in unserer Gesellschaft, man ist quasi verpflichtet, absolut gesund zu bleiben bis ins hohe Alter und dann geräuschlos tot umzufallen. Na, das ist etwas übertrieben, aber manchmal habe ich den Eindruck. Ich vermute, auch deswegen will niemand in der Pflege (& Co.) arbeiten, auch deswegen haben wir da ein so großes Problem. Weil niemand sich damit auseinander setzen will, dass das nötig ist. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Ich hoffe, Deine Geschichte findet viele Leser. Es wäre DRINGEND nötig.

P.S.: Ich gehöre auch zu den Menschen, die sich vorwiegend an das Schlechte erinnern.
Die Kunst ist, einmal mehr aufzustehen, als man umgeworfen wird. (Winston Churchill)

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Re: Tag um Tag

Beitrag von Tscharlie » Do Feb 24, 2022 06:24

Hmm, wenn 1.700.000 Menschen niemand sind, dann hast Du recht, denn soviele arbeiten aktuell in der Pflege.

In der Autoindustrie incl. Zulieferer arbeiten 823.000.
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Re: Tag um Tag

Beitrag von Mia » Do Feb 24, 2022 18:06

Ach, das ist nicht so einfach, mit dem "Einschätzen des Weglaufens, bzw. Umherirrens ", und drauf acht geben müssen. Ich versuche es mal in diesem Beitrag zu beschreiben.

Ich habe ja knapp drei Jahre in einem Heim gearbeitet, da waren wir natürlich verantwortlich und mussten ständig gucken, dass niemand "laufen" ging.

Wobei die Bewohner ja im Prinzip gar nicht rauskommen. Normale Heime sind ja mit diesen "Endlosfluren" im Kreis gebaut, bei denen die Menschen immer wieder beim Ausgangspunkt ankommen. Bei uns war das anders, wir hatten zwei Wohngruppen mit je 11 Leuten, und die waren in zwei Häusern untergebracht, die ( im zweiten Stock) auf dem Dach eines Gebäudekomplexes standen, und deshalb von Terrassen und Dachgärten umgeben waren.
Bei uns konnten die Leute auch nicht weg - aber sie konnten stolpern und stürzen! Mit einem Stuhl umfallen, oder was weiß ich.

Das Stürzen war auch ein Problem bei meiner Mutter. Und zwar stürzte sie auf der Hintertreppe zum Garten, wo ich sie zweimal, Gottseidank noch rechtzeitig, auf dem Boden fand. Einmal war Frost, und ich wohnte da noch nicht. Es war Zufall, dass ich sie vor der Nacht noch entdeckte, denn hinter dem Haus hörte man sie nicht rufen.

Deshalb musste ich, so leid es mir tat, den Hinterausgang ihres Hauses abschließen.
Sie konnte ja noch vorne heraus! Falls sie dort hinfiel, konnte sie ja gehört und gesehen werden!

Als sie dann merkte, dass sie bezüglich des Gartenausgangs bei mir (und beim Pflegedienst und beim Betreuungsdienst) auf Granit biss, fing das Theater an mit: "Ich wurde eingesperrt!"
Clever wie sie war, hat sie dann erstmal die Polizei angerufen, um sich von der Hilfe zu holen. Worte wie: " Ich wurde eingesperrt! - Meine Tochter hat mich eingesperrt!", sowas zieht ja ( ebenfalls Gottseidank!) immer! :wink:

Da habe ich übrigens auch ganz tolle Polizisten und Polizistinnen kennengelernt, die natürlich herbeieilten, sich die Sache anschauten, sie inhaltlich begriffen, mich anriefen ( ich hatte meine Nummer dick in rot über das Klavier gehängt) -- und Mutter erzählten, dass alles so seine Richtigkeit habe. Nun, meine energische Mutter ließ nicht nach. Immer wenn sie in den Garten wollte, hielt die verschlossene Tür sie auf- und sie rief wieder die Polizei! Nach dem fünften Mal, beschlossen die Polizisten im Gespräch mit mir für Mutter eine Akte anzulegen, damit nicht ständig immer wieder ein Streifenwagen zu ihr hinausfuhr.

Es kam, wie es - laut Murphys Gesetz ( Butterbrote fallen immer mit der Butterseite nach unten) - kommen musste: die Wache im Dortmunder Stadtteil A wurde ( wegen Geldmangels?) geschlossen, verantwortlich war nun die Wache im Stadtteil B. Mutters Akte war natürlich nicht mitgekommen. Die Streifenwagengeschichte wiederholte sich.
Nachdem alles mit Wache B auch geklärt war, die Akte erneuert wurde, wurde aber bald auch in B Personal abgebaut, und dann war die Hauptwache in der Innenstadt zuständig. :doh:
Und die hatten zunächst mal wirklich GAR keine Ahnung.

Die enttäusche Mutter, die hinten nicht mehr in ihren Garten kam, lief nun zwischenzeitlich mehr und mehr auf die Straße vor dem Haus, um bei irgendwelchen Passanten Hilfe zu suchen. Drückte dabei auch kräftig auf die Tränendrüse, durchaus mit Falschbehauptungen ( "Meine Tochter lässt mich verhungern!"), wie es ihre Art war. - Und die riefen natürlich wieder die Polizei an. *schmunzel*

*****
Ich meine, die Mutter war zwar dement, aber sie war dennoch fit! Das zeigt ja die Art, wie sie versuchte, mit Hilfe von anderen die Hintertür doch noch aufzubekommen.
Und: sie war so fit, dass sie eben nicht draußen hilflos umherirrte, sondern, wenn sie allein loszog, klare Ziele hatte: Frisör, Arzt, Apotheke --- Tochter im Anbau. Für erstere Ziele benötigte sie den Bus oder ein Taxi. Fand auch problemlos wieder zurück.

Einen solchen Menschen darf man nicht einsperren, finde ich!
Das galt auch für den Großvater meines Exmanns. Abends machte er sich etwas fein und spazierte/humpelte in die Kneipe des kleinen Ortes, wo er zeitlebens viele Abende verbracht hatte.
Ja, und ??? Warum sollte er das nicht dürfen? Und meine alte Mutter nicht eigenmächtig zum Frisör fahren?

Da wird von ortsfremden Außenstehenden oftmals was verwechselt. Sie kriegen mit, dass irgendwas nicht mehr stimmt, bei den Personen, aber sie können nicht einschätzen, dass auch noch ganz viele Ressourcen da sind, bzw. da sein können.

Nun, Vorsicht ist besser, als nichts zu machen!
Aber es muss nicht abgleiten in so etwas herabwürdigendes wie: "Können Sie ihrer Mutter nicht mal ein Schild hinten in den Kragen nähen, damit man weiß wer sie ist?"

Nicht alle Demenzkranken müssen komplett orientierungslos sein. Das ist eine Unterstellung. Ihren eigenen Namen kennen sie in der Regel, ihre Adresse, ihren früheren Beruf, ihren Ehepartner, ihre Kinder. In der Regel lassen sie sich gerne helfen und sind dabei dankbar und sanft.

Und wenn sie erstere Fragen nicht mehr beantworten können, dann ist wirklich Hilfe in Form eines Krankenwagens geboten, okay?
Aber zunächst sollte man sie fragen. Und sie auch ernst nehmen. :smile:

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